St. Urbanus für...

Sonntagsimpuls – 20. Sonntag im Jahreskreis | 16.08.2020

Impuls zum 20. Sonntag im Jahreskreis von Martin Verfürth.

Schrifttexte

Impuls

„Mein Haus ist ein Haus des Gebets für alle Völker.“ Dieser Vers aus der heutigen Lesung steht an der Gelsenkirchener Synagoge.

Als ich im letzten Jahr eine Gruppe aus Israel durch unsere Stadt führte, erzählte mir der Dolmetscher, dass diese Aufschrift typisch für westeuropäische Synagogen sei. Im 19. Jahrhundert waren viele Juden nach Pogromen aus Russland ausgewandert. In der neuen Heimat wurden sie argwöhnisch beäugt. Mit dem Jesaja-Vers an den Synagogen wollten sie das Verbindende signalisieren: Wir tun hier nichts Geheimes oder Verbotenes. Kommt und schaut es euch an. Unsere Türen stehen euch offen.

Aber Vorurteile und Misstrauen waren stärker. In der Nacht des 9. November 1938 wurden rund 1400 Synagogen in Deutschland und Österreich zerstört. Aus der Diskriminierung jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger wurde nun systematische Verfolgung und Ermordung. Es traf Nachbarinnen und Kollegen, Mitschülerinnen und Sportkameraden – teils einfache Menschen, teils angesehene Persönlichkeiten der Stadtgesellschaft. Einer von ihnen war der Zahnarzt Dr. Paul Eichengrün. Er war nicht nur bei seinen Patienten beliebt. Wegen seines Organisationstalents wurde er 1932 zum 2. Vorsitzenden von Schalke 04 gewählt. Doch nach der Machtergreifung der Nazis legt man ihm schon bald den Rücktritt nahe. Als der Mob 1938 die Synagoge in Brand gesetzt hat, wird anschließend auch Eichengrüns Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite verwüstet. Einige der Täter kennt er: Es sind ehemaligen Patienten. So kurz kann der Weg vom Miteinander zu grenzenlosem Hass sein.

In allen drei Schrifttexten dieses Sonntags geht es um die Frage: Wer gehört dazu? Dabei irritiert im ersten Moment besonders das Evangelium: Eine heidnische Frau bittet Jesus um die Heilung ihrer Tochter. Doch Jesus weist sie zunächst mit geradezu demütigend wirkenden Worten zurück: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. […] Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.“ Mit anderen Worten: Geh weg! Du gehörst nicht dazu!

Auch innerhalb der Kirche ist in den letzten Monaten der Ton rauer geworden und Vertreter unterschiedlicher Standpunkte um den richtigen Weg in die Zukunft sprechen sich manchmal sogar gegenseitig den Glauben ab. Die Frau im Matthäus-Evangelium lässt sich nicht abwimmeln. Sie ist mutig. Sie kämpft. Sie streckt sich und geht mit dem augenscheinlich herablassenden Jesus auf Augenhöhe. Sie kann es, weil sie einen starken Glauben und Willen hat. Aber wer macht das normalerweise, wenn er so abgewatscht wird? Ich finde es durchaus nachvollziehbar, wenn Menschen aufgrund der Zurechtweisungen, Bedingungen und Herablassungen, die sie von Amtskirche oder im Gemeindealltag erfahren, sich zurückziehen.

„Wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit, denn bald kommt mein Heil“, lässt Gott durch Jesaja sagen. Recht, das ist das festgeschriebene Wort. Gerechtigkeit ist mehr. Sie schaut auf den Einzelnen, auf jeden Menschen als einzigartiges Abbild Gottes. Gerecht bin ich, wenn ich mich bemühe, auch denen auf Augenhöhe zu begegnen, deren Ansichten mir fremd oder gar ein Ärgernis sind. Gerechtigkeit zeigt sich, wenn wir miteinander statt übereinander sprechen. Wenn ich dem unterbezahlten Paketboten ein angemessenes Trinkgeld gebe, statt auf dem Balkon für ihn zu klatschen. Wenn ich mich aufraffe, auf die Straße gehen – und zwar nicht gegen Maskenpflicht, sondern gegen Antisemitismus oder die Ausbeutung von Saisonarbeitern.

Nicht Gott, sondern wir Menschen brauchen Gotteshäuser. Aber wenn wir glauben, dass er dort besonders gegenwärtig ist, dann sollten wir die Türen weit öffnen und unbedingt die unsichtbaren Türsteher abschaffen, die Menschen von ihm fernhalten. Denn sein Haus ist es nur dann, wenn es allen offen steht, die ihn suchen.

Martin Verfürth, Vorsitzender des Pfarrgemeinderates

 

 

Bildnachweis: Jordi / CC-BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons