St. Urbanus für...

Zwischen Fan-Fanfaren und Orgelmusik: Kirchen punkten auf Gelsenkirchener Fan-Festen mit Ruhe und Kerzen

Mitten in den beiden Fan-Treffpunkten, die die UEFA für EM-Spiele in Gelsenkirchen eingerichtet hat, stehen große Kirchen. Während draußen die internationalen Fußball-Gäste feiern, öffnen drinnen haupt- und ehrenamtliche Seelsorge-Teams Räume für Ruhe, Entspannung und vielfältige Begegnungen.


Die spanische Fahne über dem roten Trikot, die goldene Trompete am Mund: Dieser Mann hat die Masse im Griff. Vor der Bühne des UEFA-Fan-Treffpunkts in Gelsenkirchen-Buer spielt er drei, vier Töne, dann übernimmt der stimmgewaltige Pulk: „Yo soy, Español, Español, Español!“ Die rot-gelbe Menge tanzt, spritzt Dosenbier über den Platz und ist sechs Stunden vor dem Anstoß des EM-Spiels in der Schalke-Arena gegen Italien in Sachen Lebensfreude kaum zu bremsen. Überwiegend junge Leute springen, singen und johlen. Lautstarke Ausgelassenheit, zu der die jahrhundertealten Mauern der Urbanus-Kirche einen eindrucksvollen Kontrast bieten. Das Gotteshaus steht inmitten des abgesperrten Areals, das die UEFA während der EM für die internationalen Fußball-Fans eingerichtet hat. Und wer den Kircheneingang gleich neben den blauen UEFA-Transparenten und dem handgeschriebenen „WELCOME – We are open“-Schild nimmt, taucht ein in diesen Kontrast zwischen Partyzone und Gebetsraum. Einmal links um die Ecke – dann wird die Bass-lastige Musik von draußen mit jedem Schritt leiser und in den Ohren übernehmen zunehmend Orgelklänge die akustische Regie.

„Als der Fan-Treff hier auf unserem Kirchplatz geplant wurde, war für uns schnell klar, dass wir uns auch als Kirche daran beteiligen“, sagt Ludger Klingeberg aus dem ehrenamtlichen Team der Cityseelsorge „/kju:b/“ in St. Urbanus. So steht nun während der vier EM-Wochen ein Fußballtor im linken Seitenschiff der Kirche. Wer durch den Eingang neben der UEFA-Bühne kommt, steuert direkt darauf zu. „Im Tor hängen Karten mit Psalmgebeten auf Deutsch und Englisch“, erklärt Theresa Finke, die gemeinsam mit Klingeberg heute Nachmittag die Gäste in der Kirche betreut. Die Karten mit Sätzen wie „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern“ oder „Du hast meine Füße auf weiten Raum gesetzt“ könnten auch in manchen Fußball-Spind passen. Die Leute können sie mitnehmen und zugleich ein buntes Band ins Tornetz knüpfen – als Erinnerung oder beschriftet mit einem Wunsch oder einem Gebet. „Gib uns Frieden!“, hat jemand aufgeschrieben. Einige Bänder hängen noch von den serbischen Fans, die vor dem Spiel am Sonntag in Buer gefeiert haben. Seit dem Mittag nimmt nun die Zahl der rot-gelben Streifen im Tor deutlich zu. Es sind keine Besuchermassen, die in die Kirche kommen. Mancher Fan zögert, mit dem Bier-Becher in der Hand das Gotteshaus zu betreten – und wird von Finke und Klingeberg mit wohlwollendem Winken eingeladen. Dann steht ein Mann vor dem Tor und schaut sich die Gebete an, ein Pärchen lehnt an einer Kirchenbank und blickt zur Orgelempore, ein EM-Volunteer in seiner grünen Jacke genießt eine ruhige Pause vor dem nächsten Einsatz im Fan-Treffpunkt – und eine Familie steht mit Finke an einer Tafel mit einer Europakarte. Auf der können alle Gäste ihren Herkunftsort markieren. „Vorhin war jemand aus Mexiko hier“, sagt Klingeberg mit einem Lachen, „den konnten wir da leider nicht unterbringen“.

„Warum kann es hier nicht immer so friedlich sein?“

Manchmal kommen auch Gemeindemitglieder und Menschen aus der Nachbarschaft vorbei, berichtet Klingeberg. „Vorhin war eine Frau aus Buer hier, die von der tollen Atmosphäre auf dem Fan-Fest geschwärmt hat“, sagt Klingeberg. Warum es hier nicht immer so friedlich sein könne, hat sie gefragt. „Wir wollen zeigen, dass wir als Kirche da sind – und dass wir alles andere als verstaubt sind“, erläutert Finke, die Mitglied des Pfarrgemeinderats-Vorstands von St. Urbanus ist, den Hintergrund des EM-Projekts. Und wer weiß, vielleicht fände ja mancher durch Fußball und Kirche auch einen neuen Zugang zum Glauben. Bis dahin gibt es aber erst noch ein paar praktische Fragen zu klären: „Knicklicht“ heißt auf Spanisch „Barra Luminosa“, stellt Klingeberg gerade per Online-Übersetzer fest. Eine wichtige Vokabel, denn ein buntes Knicklicht für die Fan-Party am Abend bekommen alle Gäste beim Verlassen der Kirche in die Hand gedrückt.

Neun Kilometer weiter südlich ist die Stimmung ähnlich ausgelassen wie in Buer – nur mit einem anderen Soundtrack: Statt „Eviva España“ schallt hier gerade „Azzurro“ über den Heinrich-König-Platz. Im zweiten Gelsenkirchener „UEFA Fan Meeting Point“ bereiten sich heute die italienischen Fans auf das Spiel in der Arena vor. Imbiss- und Getränke-Buden, eine Bühne, Torwandschießen, Kickerturnier – und das Ganze umrahmt von der evangelischen Altstadt- und der katholischen Augustinus-Kirche. Vor dem großen Turm von St. Augustinus lädt grüner Kunstrasen die Fans von der Fußgängerzone in die Kirche. Viele, die durch die Glastür ins Innere treten, nehmen den gleichen Weg wie Student Christian: Erst einmal nach rechts zum Kerzenständer. Dann blickt sich der junge Mann aus Rom ein wenig um in dem neugotischen Gotteshaus, in dem das Cityseelsorge-Team die spanische und die italienische Fahne mit Schweinwerfern an die Wände projiziert. „Ich schaue mir in fremden Städten immer die Kirchen an, um etwas über die Kultur der Menschen zu lernen“, sagt Christian. „Für mich ist das wie ein Museum.“ Und die Kerze? Die gehöre vor dem Spiel am Abend auf jeden Fall dazu. 2:1 sei sein Tipp. Dann macht er noch ein schnelles Kreuzzeichen und entschwindet durch die Glastür zurück auf die Straße.

„Viele der italienischen Fans wissen mit einer Kirche etwas anzufangen“

„Viele der italienischen Fans wissen mit einer Kirche etwas anzufangen“, hat Tobias Klinke beobachtet. Beim Spiel England-Serbien seien viele Gäste spürbar distanzierter gewesen. Zusammen mit mehreren Ehrenamtlichen steht der Pastoralreferent den Fans mit Rat und Tat zur Seite und kommt immer wieder mit ihnen ins Gespräch. „Bei den Kerzen musste ich den Vorrat heute schon einmal nachfüllen“, sagt Klinke, der das Angebot der Kirche als ruhige und entspannte Alternative zum Rummel vor der Tür sieht. Sein Team und ihre Gäste haben Glück: Eigentlich wäre St. Augustinus in diesen Wochen werktags geschlossen, weil die Orgel neu intoniert wird. Aber weil der Orgelbauer bei dem Lärm vor der Tür kaum arbeiten kann, können Klinke und Co. die Kirche an diesem Nachmittag und bei den nächsten Fan-Festen vor Spielen in Gelsenkirchen für die internationalen Fußball-Gäste öffnen.

Italienischer Heiliger mit Fußball an den Füßen

Acht Stunden später ist jedoch klar, dass für Christian und all die anderen Fans in den blauen Trikots alles Anfeuern, Hoffen und Beten nichts genützt hat: Die italienische Squadra Azzura unterliegt der spanischen Mannschaft mit 0:1. Wer weiß, aber vielleicht hätte Christian seine Kerze besser in der St. Joseph-Kirche in Schalke, auf halbem Weg zwischen Innenstadt und Buer angezündet. Da hängt schließlich das berühmte Fenster, das den Hl. Aloisius von Gonzaga mit einem Fußball an den Füßen zeigt. Der war Italiener – und dann war an diesem Donnerstag auch noch der Vorabend seines jährlichen Gedenktags. Ihm zu Füßen hat eine bunt gemischte Truppe von Fußball-Fans aus Schottland, England, Italien, Spanien und der Schweiz das Spiel beim Public Viewing in der „Offenen Kirche Schalke“ verfolgt.

Geht’s nach den Gelsenkirchener Seelsorge-Teams in St. Urbanus, St. Augustinus und St. Joseph kann es mit der EM nun erst einmal so weitergehen: Nach dem Deutschland-Spiel am Sonntag freuen sie sich nächste Woche Freitag, 28. Juni, auf Gäste aus Georgien und Portugal – und dann am Sonntag, 30. Juni, auf die Fans der Mannschaften, die das das Achtelfinale in der Schalke-Arena bestreiten. (tr)

INFO: Schutz und Hilfe: Awareness-Teams in den Kirchen
In den Kirchen in beiden Fan-Treffpunkten hat die UEFA sogenannte Awareness-Teams stationiert. Sie helfen Menschen, die sich auf den Fan-Festen bedrängt fühlen. Hier nutzt auch die UEFA die Kirche als Ruhe- und Rückzugs-Räume.

Text: Thomas Rünker / Bistum Essen
Fotos: Alexandra Roth / Bistum Essen